AKW sollen zehn Jahre länger laufen – fürs Klima

Wegen des Endes des Rahmenabkommens ist ungewiss, wie viel Strom die Schweiz importieren kann. Nun müssen die Atomkraftwerke in die Lücke springen.

Jürg Meier 5 min
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Im Winterhalbjahr leisten die Schweizer Kernkraftwerke fast 40% unserer Stromproduktion: Blick auf das AKW Leibstadt (AG).

Im Winterhalbjahr leisten die Schweizer Kernkraftwerke fast 40% unserer Stromproduktion: Blick auf das AKW Leibstadt (AG).

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Es ist das dominierende Thema in der Diskussion um die Schweizer Stromversorgung: Wie decken wir unseren Bedarf, nachdem wir unsere Atomkraftwerke abgestellt haben? Besonders drängend ist die Frage, seit der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen abgebrochen hat.

Damit ist auch das Stromabkommen gescheitert. Es wäre aber wichtig, um den wegen des Atomausstiegs steigenden Importbedarf abzusichern. «Blackout-Risiken erschrecken die Schweizer», titelte die US-Nachrichtenagentur Bloomberg diese Woche – und trompetete unsere Sorgen um die Versorgungssicherheit in die ganze Welt hinaus.

Die Situation ist inzwischen so angespannt, dass eine Lösung unausweichlich erscheint, die zu reden gibt: die Schweizer Kernreaktoren viele Jahre länger laufen zu lassen als bisher vorgesehen. Dazu muss man wissen: Für die Anlagen gibt es kein offizielles Abstelldatum. Als die Bevölkerung 2017 dem Ausstieg zustimmte, legte sie gleichzeitig fest: Die bestehenden Reaktoren sollen so lange laufen, wie sie sicher sind. Politik und Verwaltung gingen seither davon aus, dass die Reaktoren nach 50 Jahren stillgelegt werden. Im Fall der beiden für die Stromversorgung entscheidenden Reaktoren Gösgen und Leibstadt wäre das Stichjahr 2029 und 2034.

60 anstatt nur 50 Jahre

Doch jetzt dreht der Wind. Diesen Montag hielt der Vizechef des Bundesamts für Energie (BfE), Pascal Previdoli, einen Vortrag an einer Veranstaltung des Verbands der Schweizerischen Elektrizitätsunternehmen. «Angenommen, die Kernkraftwerke lassen sich 60 Jahre sicher betreiben, dann können Sie sich vorstellen, wie das die Versorgungssituation entschärft», sprach er ins erstaunte Publikum.

Wie gross der Effekt einer längeren Laufzeit ist, lässt sich einfach an einer Grafik nachverfolgen: Verschiebt man die violette Linie um zehn Jahre nach rechts, wird der Importbedarf massiv kleiner.

Ein Weiterbetrieb der AKW, so Previdoli weiter, sei zwar primär die Sache der Stromkonzerne und des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (ENSI). «Wir stehen aber in Diskussion mit den Betreibern, um besser zu verstehen, in welche Richtung ihre Planung geht», sagte Previdoli. Eine BfE-Sprecherin bestätigte auf Anfrage die Gespräche.

Auch in der Politik gewinnt die Idee, die AKW länger laufen zu lassen, an Unterstützung. Laut FDP-Nationalrat Peter Schilliger hat sich der Bund beim Thema Versorgungssicherheit lange aus der Verantwortung gestohlen. Jetzt sei ihm klar geworden: «Für die erfolgreiche Umsetzung der Energiestrategie ist er auf eine Laufzeit der Kernkraftwerke von mindestens 60 Jahren angewiesen.» Aus Sicht von Schilliger ist es realistisch, gar über Laufzeiten von 65 oder 70 Jahren zu reden. Klar sei aber: «Bei der Sicherheit dürfen keinerlei Abstriche gemacht werden.»

Auch für Nationalrätin Priska Wismer-Felder (Mitte) ist und bleibt es entscheidend, «dass die Kernreaktoren sicher sind». Sollten längere Laufzeiten zum politischen Thema werden – etwa weil die Betreiber finanzielle Unterstützung benötigen –, wäre sie diskussionsbereit. Längere Laufzeiten wären aber nur eine von vielen Möglichkeiten, die Versorgungssicherheit zu verbessern – und unter diesen «wirklich nur die allerletzte Option.»

Es gibt noch eine weitere wichtige Gruppe, die sich offen dafür ausspricht, die bestehenden Kernkraftwerke 60 Jahre lang zu laufen zu lassen: die Betreiber selbst. Insbesondere die Axpo, die wichtigste Atomstromproduzentin des Landes.

Die Axpo will 60 Jahre

An einer Veranstaltung der Raiffeisenbank von Mitte Juni erläuterte Axpo-Topmanager Martin Koller, Leiter Energieökonomie, eine interne Studie des Stromriesen zur Versorgungssicherheit im Winter. Sie sei künftig nicht mehr jederzeit gegeben. Der erste Punkt auf seiner Liste der Gegenmassnahmen lautete, die bestehende Kernenergie 60 Jahre am Netz zu halten.

Interessant dabei: Koller hat bei der Axpo die Aufgabe, Szenarien für die Energiepreise bis ins Jahr 2050 zu berechnen. Ihm ist dabei sicherlich eine Entwicklung nicht entgangen, die eine völlig neue Ausgangslage für den Weiterbetrieb der Schweizer Kernkraftwerke schafft: Der Preissprung an den europäischen Strombörsen. Zwischen 2013 und 2016 war dort der Börsenpreis von 60 Fr. pro Megawattstunde auf 25 Fr. abgesackt. Die Stromkonzerne mussten Milliarden abschreiben. Doch seither steigt der Preis stetig an. Inzwischen liegt er – trotz einem zeitweiligen Einbruch wegen der Corona-Krise – bei 82 Franken.

«Das ist eine völlig andere Situation als 2015 und 2016», sagt Dominik Wipfli von Ompex, einem Energiedienstleister, der sich seit Jahren mit den Strommärkten befasst. Der Preisanstieg wird vor allem durch die strengere Klimapolitik der EU getrieben und ist «kein vorübergehendes Phänomen», wie Wipfli sagt. «Die EU hat die Weichen in der Klimapolitik definitiv gestellt.» Vom Anstieg der Strompreise profitieren die Kraftwerke ganz besonders, die kein CO2 ausstossen und darum keine teuren CO2-Emissionszertifikate – auch Verschmutzungsrechte genannt – kaufen müssen. Also etwa Atom- und Wasserkraftwerke.

Zudem ist der Preisanstieg im Winterhalbjahr stärker als im Sommerhalbjahr, weil dann der Strom in ganz Europa knapp ist. Die Folge: Der positive Effekt ist bei all den Kraftwerken besonders gross, die mehr CO2-freien Strom im Winter produzieren, wie Wipfli erklärt. Zu dieser Gruppe gehören die Schweizer Atomkraftwerke.

Goldenes Betriebsende

Für die AKW-Betreiber könnten längere Laufzeiten darum attraktiv sein. Kostenmässig macht es zudem keinen entscheidenden Unterschied, ob sie sich statt auf 60 gleich auf 70 Jahre Betriebszeit einstellen. Bleiben die Strompreise und die politischen Rahmenbedingungen stabil und werden keine riesigen Investitionen nötig, könnten die letzten Betriebsjahre der Anlagen zur Goldgrube werden.

Das BfE berechnete 2019 zwar bereits Szenarien, die von einer Betriebsdauer von 60 Jahren ausgingen. Doch als es Ende 2020 dann einen zusammenfassenden Bericht über die möglichen Wege für den Atomausstieg veröffentlichte, legte es nur die Laufzeiten von 50 Jahren zugrunde. Die Berechnungen zu den 60 Jahren publizierte es diskret in separaten Excel-Tabellen. Nun scheint es, dass sich diese Szenarien materialisieren.

Längere Laufzeiten: Kernkraftgegner wehren sich

Viele Befürworter des Atomausstiegs lehnen eine AKW-Laufzeit von 60 statt 50 Jahren klar ab. SP-Nationalrat Roger Nordmann bezeichnet die Diskussion als «völlig absurd»: «Die grossen Kernkraftwerke Gösgen und Leibstadt sind ein Klumpenrisiko», sagt er. «Je älter diese Kraftwerke werden, desto eher gibt es Pannen. Und diese können zu einem wochenlangen Unterbruch der Produktion führen.» Nordmann verweist dabei auf das Beispiel des AKW Leibstadt, das im Winter 2016/17 monatelang stillstand. Felix Nipkow von der Schweizerischen Energiestiftung hält die Diskussion für unnötig. Es gebe kaum Erfahrungen mit so langen Betriebszeiten. «Um die Versorgungssicherheit zu erhöhen, sollten wir darum den Ausbau der erneuerbaren Energien vorantreiben», sagt Nipkow. Der Fokus müsse dabei auf der Solarenergie liegen – «für sie braucht es endlich die richtigen finanziellen Anreize».

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